Mehrfach auβergewöhnliche Menschen –
Ihre Stärken, Schwierigkeiten und Bedürfnisse
Nur Einser im Zeugnis, gut organisiert und vielseitig engagiert – das klassische Bild des hochbegabten Kindes hält sich eisern. Doch die Realität sieht anders aus und das Phänomen Hochbegabung ist weit bunter und facettenreicher als gemeinhin bekannt. Verhaltensauffälligkeiten, Lernschwierigkeiten und Selbstzweifel gehören zum Thema Hochbegabung genauso dazu wie verblüffende Leistungen, ungewöhnliche Lernwege und ein unbändiger Wissensdurst.
Treten bei hochbegabten Menschen zeitgleich eine Lernstörung, Verhaltensauffälligkeiten, emotionale Störungen oder ein AD(H)S auf, so spricht man von mehrfach auβergewöhnlichen Personen (im Englischen ‚twice-exceptional‘ oder ‚2e‘). Besonders im doppelten Sinne, stellen sie uns alle vor groβe Herausforderungen. Werden die Hochbegabung oder die Störung nicht rechtzeitig erkannt, fallen mehrfach auβergewöhnliche Menschen oftmals schon im jungen Alter durchs System. Schwierigkeiten in Schule und Familie, Ängste und ein zerstörtes Selbstbewusstsein sind häufig die Folge.
Generell gilt, hochbegabte Kinder weisen auch ohne Lernschwäche oder Störung häufig eine asynchrone Entwicklung auf. In Teilbereichen sind sie ihren Altersgenossen weit voraus, während sie in anderen Bereichen ein altersgemäβes oder manchmal sogar rückständiges oder unterentwickeltes Verhalten an den Tag legen. Schon in einem solchen Fall ist es nicht immer einfach, das geeignete Lernumfeld oder Schulsystem zu finden und es kann zu Schwierigkeiten in Familie und Schule kommen. Weisen nun hochbegabte Menschen zusätzlich eine Lernschwäche oder Störung auf, wird die Situation noch schwieriger. Die Schwierigkeiten, mehrfach auβergewöhnliche Menschen zu erkennen und entsprechend zu fordern und fördern, lassen sich wie folgt erklären. Zum einen kann das Talent der Person deren Schwäche maskieren und es wird in einem solchen Fall erst spät oder gar nicht mit Interventionen und/oder Förderung begonnen. Kommt es dann zu Schwierigkeiten in Schule oder Beruf, werden diese Personen häufig als Underachiever bezeichnet – Personen, deren Leistungen unter deren eigentlichem Potential zurückbleiben. Nicht selten wird ihnen in einem solchen Fall Faulheit oder mangelnde Lernbereitschaft unterstellt. Eine mögliche Lernschwäche oder eine Aufmerksamkeits-Defizit-(Hyperaktivitäts-)Störung werden dagegen selten in Betracht gezogen.
Des Weiteren können aber auch die Defizite die Stärken eines Menschen verdecken, und die besondere Begabung einer Person wird nicht erkannt. Eine dritte Möglichkeit ist das sich gegenseitige Aufwiegen von Talent und Schwäche, so dass eine Person als ‚durchschnittlich‘ gilt. Die Schwierigkeiten, mehrfach auβergewöhnlichen Kindern zu Hause und in der Schule gerecht zu werden, liegen auf der Hand. Vielen Eltern, Lehrern, Erziehern und Ärzten ist das Phänomen ‚Twice-Exceptionality‘ nicht bekannt und es fehlt an entsprechender Information, Aufklärung und Weiterbildung. Um ihr volles Potential ausschöpfen zu können, müssen sowohl Schwächen als auch Stärken des Kinder berücksichtigt werden. Diese könnte man auch in der Schule leicht mit entsprechendem Diagnose- und Evaluationsmaterial ermitteln, jedoch fehlt zum einen geeignetes, deutschsprachiges Material, zum anderen hat flächendeckendes Evaluieren unserer Schüler in Deutschland keine Tradition (wie beispielsweise in den USA). Dabei käme eine individualisierte Sichtweise letztendlich allen Schülern zugute.
Ein unter Umständen von den Eltern initiiertes Gutachten eines Psychologen kann in diesem Fall wertvolle Informationen geben. Wichtig ist dabei, die bei durchgeführten IQ-Tests durchlaufenen Untertests (z.B. Sprachverständnis, Wahrnehmungsgebundenes Logisches Denken, Arbeitsgedächtnis und Verarbeitungsgeschwindigkeit) zu beachten, denn das Gesamtergebnis kann durch ein schlechtes Abschneiden in Teilbereichen stark verfälscht werden. Bei mehrfach auβergewöhnlichen Menschen klaffen die erreichten Werte in den unterschiedlichen Testbereichen deutlich auseinander. Während das Ergebnis im logisch-mathematischen Bereich beispielsweise bei einem IQ-Wert von 135 liegen kann, schneidet dieselbe Person in anderen Bereichen nur durchschnittlich oder sogar unterdurchschnittlich ab.
Bei einer gelungenen Förderung mehrfach auβergewöhnlicher Kinder geht es aber nicht nur um die akademischen Stärken und Schwächen einer Person, sondern wie bei allen anderen Menschen auch um deren Lernstile, Vorlieben und Interessen. Neben der ganzheitlichen Betrachtung des Kindes kommt es darauf an, ein Lernumfeld zu generieren, das die Stärken der Kinder fördert und gleichzeitig ihren besonderen Lernbedürfnissen gerecht wird. Ebenso geht es um das gelungene Zusammenspiel von therapeutischen und schulischen Maβnahmen, die den akademischen Erfolg wie auch das emotionale Wohlergehen der Kinder fördert und unterstützt.
Eltern, Ärzte, Lehrer und Erzieher müssen das Potential, aber auch die Schwierigkeiten dieser Kinder kennen lernen, um ihnen auf ihrem ohnehin schon steinigen Weg helfen zu können.
*Pädagogische Psychologie, University of Connecticut, USA